12. Oktober 2021 | Einfachheit

Zurück zum Wesentlichen

Einfachheit

Wer an Japan denkt, hat schnell kontrastreiche Bilder vor Augen. Dort treffen uralte Kulturen und tief verwurzelte Traditionen auf hypermoderne Großstädte, High-Tech und verrückt bunte Mangawelten. Einen wohltuenden Gegenpol zur oft glatten, auf Perfektion getrimmten, sterilen Ästhetik stellt das Wabi-sabi-Konzept dar.

Wabi-sabi ist ein japanisches Schönheitsideal und zugleich eine Geisteshaltung. Es zeichnet sich durch Einfachheit, die Ästhetik des Unvollkommenen sowie den Fokus auf natürliche Materialien aus. Das Konzept ist eng mit dem Zen-Buddhismus verbunden. Im 16. Jahrhundert soll der japanische Tee-Meister und Zen-Mönch Sen no Rikyū den Begriff „Wabi-sabi“ eingeführt und seine Prinzipien bei der Teezeremonie mit Würdenträgern angewandt haben. Er hielt sie nicht mehr in einem prachtvollen Teehaus mit kunstvoll gefertigtem Porzellan ab, sondern wählte einen schlichten Raum und Teegeschirr mit deutlichen Gebrauchsspuren, damit sich Gastgeber und Gäste auf das Wesentliche fokussieren können.

Verborgene Schönheit

Schönheit liegt im Auge des Betrachters und manchmal ist das Schöne einfach gut versteckt. Die Ästhetik in Makeln offenbart sich vielen nicht auf den ersten Blick. Wabi-sabi richtet die Aufmerksamkeit auf genau diese verhüllte Schönheit. Das können ein angerosteter Stuhl, eine vermooste Mauer oder eine blanke Innenwand mit verrohten Fugen sein. Dingen wird ein hoher ästhetischer Wert zugeschrieben, wenn ihr Material altert und Spuren der vorherigen Nutzung offenlegt. Durch die fernöstliche Lehre erfahren altgediente Gegenstände eine Wertschätzung. Es geht dabei auch um das Gewahrwerden des Vergänglichen und um die Abkehr von Prunk, Überladenem und, modern interpretiert, von Konsum. In den Vordergrund rückt stattdessen die Konzentration auf das Wesentliche.

Kulturzentrum Neun Ingolstadt

Die Wabi-sabi-Lehre ist nicht immer klar zu fassen, denn sie gibt keine eindeutigen Regeln vor.

Die Grundprinzipien von Wabi-Sabi lassen sich auf die Architektur und die Gestaltung von Innenräumen übertragen. Dabei wird auf überflüssige Einrichtungsobjekte zugunsten freier Fläche verzichtet. Wenige schlichte und nützliche Dinge bestücken den Raum. Die Haltung der Demut, auch vor Objekten, ist Teil der japanischen Kultur und findet sich hier wieder.

Schlichte Natürlichkeit

Die Wabi-sabi-Lehre ist nicht immer klar zu fassen. Sie gibt keine eindeutigen Regeln vor. Wichtige Kriterien sind Erdverbundenheit, Gegenstände, die zunächst grob und roh wirken, die Fertigung aus gewöhnlichen und natürlichen Materialien sowie Hinweise auf natürliche Prozesse in der Textur. Stellvertretend für diese Idee kann eine simple Teeschale gelten: aus grobem Ton, mit einer Gestalt und einer ungleichmäßigen Glasur, die auf handwerkliche Herstellung schließen lassen. Kleine Risse oder Beschädigungen gelten nicht als Makel, sondern werden mit der Kintsugi-Methode so repariert, dass Goldpartikel sie noch hervorheben. Darin liegt mehr würdevolle Authentizität als in der Illusion des Perfekten. Der Charakter des Materials bestimmt z.B. auch die Ästhetik von Wänden, die unverarbeitet bleiben, weder durch Putz noch Tapete ein perfektes Antlitz bekommen, deren konstruktives Erscheinungsbild zelebriert wird. Wabi-sabi regt dazu an, auch im Alltäglichen, Bescheidenen und von der Zeit Gezeichneten Würde und Eleganz zu erkennen – in sämtlichen Dimensionen des Lebens.

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