29. Februar 2024 | Janine Kohnen | Beitrag

Umdenken im Bauwesen

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Round Table der Initiative „Wertvolle Wand“ gestartet. In einer Zeit, in der ökologische und gesellschaftliche Veränderungen die Zukunft formen, steht auch das Bauwesen vor der Herausforderung, sich neu zu definieren. Doch was gilt es zu überdenken, um die Zukunft des Bauens klimaresilient, sozial gerecht und wertvoll zu gestalten? Und wie könnten Lösungsansätze aussehen? Antworten lieferte der erste Round Table „Rethink“ der Initiative „Wertvolle Wand“.

Veraltete Denkmodelle treffen auf die Klimakrise

Die Veranstalter, vertreten durch Peter Theissing von KS-Original und Christian Poprawa von Saint-Gobain Weber, luden Prof. Fabienne Hoelzel, Prof. Dr. Martin Düchs sowie Prof. Dr. Stefan Greiving zur Diskussionsrunde ein, die von Dr. Tania Ost moderiert wurde. Zunächst galt es, die globalen und nationalen Herausforderungen und Zusammenhänge zu überdenken, um dann zu neuen und wertvolleren Lösungsansätzen für das Bauen zu gelangen.

Bereits zu Beginn waren sich die Teilnehmenden schnell einig, dass sowohl global als auch in Deutschland überwiegend veraltete Denkmodelle und Wertesysteme auf komplexe Ausgangslagen und Interessenkonflikte treffen, die durch die Klimakrise und die begrenzten Ressourcen auf unserem Planeten weiter verschärft werden. Wertevorstellungen und Gewohnheiten seien überwiegend auf ein kapitalistisches System ausgerichtet: Wachstum, Komfort und Sicherung des eigenen Wohlstands. Christian Poprawa fügte hinzu, dass allgemein der Blick auf die Gemeinschaft sowie die Eigenverantwortung verloren gegangen sei.

 

„Rethink“ begann mit einem Austausch über die globalen Herausforderungen der Baubranche.

Gruppenbild

Von links nach rechts: Christian Poprawa (Saint-Gobain Weber), Peter Theissing, (KS-Original), Dr. Tania Ost (Moderation), Prof. Dr. Stefan Greiving (TU Dortmund), Prof. Fabienne Hoelzel (ABK Stuttgart), und Prof. Dr. Martin Düchs (NDU St. Pölten).

Prof. Fabienne Hoelzel

Prof. Fabienne Hoelzel plädiert für eine feministische Stadtplanung, basierend auf dem Gender Planning, als zeitgemäße Lösung.

Prof. Dr. Martin Düchs

Architektur und Städtebau seien eine Bedingung der Möglichkeit des guten Lebens auf individueller, zwischenmenschlicher und gesellschaftlicher Ebene, so Prof. Dr. Martin Düchs.

Gerechte Verteilung von Räumen und Ressourcen

Eine gerechte Verteilung des Raumes und der endlichen Ressourcen sei auch in Deutschland von großer Bedeutung. Bereits hier sei der Wohnraum ungleich verteilt. „Die Folge des Sanierungsdrucks und der CO2-Bepreisung sind zunehmender Leerstand und die Verschärfung bestehender räumlicher Disparitäten. Zusätzlich gibt es einen hohen Druck auf Immobilien- und Wohnungsmärkte in den Kernstädten und deren Umland und damit mehr Energie- und Ressourcenverbrauch“, ergänzte Prof. Dr. Stefan Greiving, Leiter des Instituts für Ruamplanung an der TU Dortmund. Es sei an der Zeit, sich von starren Maßstäben für wirtschaftliche Tragfähigkeit zu verabschieden, die für alle Regionen gleich hoch angelegt werden. Denn dies führe zu sozialen und politischen Unruhen sowie einem noch stärkeren Stadt-Land-Gefälle.

Peter Theissing plädierte ebenso dafür, abgelegene ländliche Regionen besser anzubinden und dort neue Qualitäten durch Neu- und Umbau zu schaffen. Auch die Frage des Ressourcenverbrauchs – wo werden Ressourcen erzeugt, wo werden sie verbraucht – müsse angegangen werden. Dies könnte nicht nur zu einer ausgewogeneren Verteilung beitragen, sondern auch ökologische und soziale Vorteile mit sich bringen.

Bedarfsgerechte Stadtplanung für alle

Mit dem Instrument einer feministischen Stadtplanung, die, basierend auf dem Gender Planning, die Bedürfnisse aller Bevölkerungsgruppen berücksichtigt und sozial gerecht gestaltet ist, ergäben sich große Potentiale für die Nutzung und Gestaltung des öffentlichen Raumes, bezogen auf die Stadt, das Umland und die ländliche Region, führte Architektin und Stadtplanerin Prof. Fabienne Hoelzel an.

Noch würde zu sehr die konservative, konventionelle Kleinfamilie betrachtet. Stattdessen könnte auf Basis einer feministischen Stadtplanung eine ganzheitliche Bedarfsplanung entstehen, die von städtebaulichen Maßstäben bis hin zur einzelnen Gebäudeebene reicht und „den Menschen mehr in den Fokus rückt“, fügte Architekt und Philosoph Prof. Dr. Martin Düchs hinzu.

Als Vorbilder für eine zukunftsfähige Stadtplanung wurden von den Teilnehmer*innen Barcelona und Paris genannt sowie Urban-Gardening- und Urban-Farming-Konzepte. Mit solchen Beispielen sowie positiven Visionen und Erzählungen könne der Angst vor Veränderung am besten begegnet werden, um neue Lebens- und Wohnmodelle sowie innovative Technologien in Bewegung zu bringen. Begleitet werden sollten diese Veränderungsprozesse durch eine gut gesteuerte Kommunikation mittels Verfahrensformen wie beispielsweise Bürgerbeteiligungen, die den Betroffenen und Entscheidungsträgern die Themen erläutern und ihre Bedürfnisse erfragen. So können die Planenden anschließend entsprechend absichtsvoll handeln und gestalten.

Deregulierung für lokale Lösungen

Ein weiterer Lösungsansatz besteht in der Deregulierung und dem Verzicht auf einheitliche ordnungsrechtliche Vorgaben, die bisher bundesweit nach dem Prinzip „one size fits all“ über völlig unterschiedlich leistungsfähige Regionen hinweg durchgesetzt werden. Gefragt seien stattdessen räumlich und milieuspezifisch differenzierte und verhältnismäßig effiziente Lösungen, die Raum für lokale Entscheidungen und Verantwortung lassen. „Im Sinne des mehr Zulassens, der Entbürokratisierung und des kosteneffizienten Bauens sollten nach einer Art Leitplankenmodell unterschiedliche Standards definiert werden, und zwar in unterschiedlichen Räumen, die unterschiedliche Entwicklungsimpulse benötigen“, schlug Greiving vor. Noch führe die Vielzahl von Gesetzen, Normen und Vorschriften in Deutschland dazu, dass kaum ein Entscheider aus dieser Sicherheit ausbrechen wolle. Theissing ergänzte: „Umdenken benötigt einen radikalen, zukunftsgerichteten Bewusstseinswandel und zugleich eine Rückbesinnung auf Bewährtes, um schnellstens zu einer neuen Einfachheit zu kommen. Der Gebäudetyp-e, der durch reduzierte Standardnormen und vereinbarte Schutzziele zum Umdenken in der Branche anregen soll, ist so ein Ansatz für zukunftsfähiges und vereinfachtes Bauen. Denn wertvoll wird in Zukunft das sein, was einfach ist.“

Der Grundgedanke des „Mehr Zulassens“ wurde von allen Teilnehmenden deutlich befürwortet. „Regionalität ist auch ein wesentliches Attribut der Einfachheit. Eine Deregulierung würde den Weg für eine regional sinnvolle Nutzung von Ressourcen und erneuerbaren Energien ebnen und gleichzeitig eine Rückbesinnung auf traditionelle und regionale Bauweisen ermöglichen“, sagte Christian Poprawa und fügte hinzu: „Wir dürfen aber auch Ästhetik und Komfort nicht außer Acht lassen. Ohne diese Attribute bleibt die Akzeptanz von Gebäuden nicht lange erhalten.“

Letztlich ginge es auch um die Betrachtung der Verhältnismäßigkeit, insbesondere beim Bauen im Bestand. Investitionen und Fördermittel seien zielgerichteter in pragmatische Verbesserungen, die mit vertretbarem Aufwand umgesetzt werden können, als in teure und abschreckende Maßnahmenpakete investiert. „Gerade vor dem aktuellen Hintergrund der Energiewende und des Gebäudeenergiegesetzes vertrete ich die Position, dass es hinsichtlich des Ressourcen- und Energieeinsatzes oft sinnvoller sein kann, energetisch suboptimale Gebäude weiter zu nutzen und nicht unbedingt immer aufwendig energetisch zu sanieren“, erläuterte Greiving.

Prof. Dr. Stefan Greiving

Die Grundidee des „Mehr Zulassens“ und somit eine Abkehr von der ordnungsrechtlichen Überregulierung brachte Prof. Dr. Stefan Greiving als einen Lösungsansatz ein.

Theissing Poprawa

Für Peter Theissing (links) und Christian Poprawa gehören die Rückkehr zur konstruktiven Einfachheit und die Konzentration auf ressourcenschonende regionale Bauweisen zum Umdenkprozess

Eigenverantwortung der Entscheider

In der praktischen Umsetzung des besagten Umdenkens spielen die Eigentümer*innen und Grundstücksbesitzer*innen sowie die Bauherren eine entscheidende Rolle. Ebenso sind es die Vertreter*innen von Bund, Land und Kreis, die verstärkt in die Pflicht genommen werden müssen. „Es ist wichtig zu betonen, dass die Architekt*innen und Planenden zwar Ideengeber, aber nicht die alleinigen Entscheidungsträger sind“, sagte Hoelzel. Vielmehr sollten sie als Impulsgebende fungieren und die Basis für einen breiten Dialog schaffen.

Ur-Vertrauen in die entwerferische Kraft

Um ein Umdenken und damit einen Wandel in der Baubranche voranzutreiben, sei es entscheidend, unser bisheriges Wertesystem und Gewohnheiten zu hinterfragen, fassten die Teilnehmenden zusammen. „Was wollen wir? Wo wollen wir hin? Wie wollen wir in Zukunft leben?“ seien die grundlegenden Fragen, die es als Individuum und als Gesellschaft zu beantworten gelte. „Letztlich sind unsere Gebäude und Städte die Kristallisationspunkte, an denen sich unsere Werte offenbaren. Architektur ist somit das steinerne Zeugnis unserer Wertvorstellungen“, resümierte Düchs.

Autor
Janine Kohnen

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