Ein Ort erwacht aus dem Dornröschenschlaf

Anstatt auf der grünen Wiese zu bauen, wurde in Ingelheim am Rhein eine lange brachliegende Fläche im Ortskern aktiviert. Das neue Wohnquartier reagiert nicht nur städtebaulich und gestalterisch auf seine Umgebung, sondern schafft einen nachhaltigen Mehrwert für die Menschen des Stadtteils.

Betrachtet man Frei-Weinheim – ein Stadtteil von Ingelheim am Rhein – aus der Luft, so könnte seine Lage kaum besser sein: direkt am Rhein, etwas abseits von der eigentlichen Stadt, mit weiten Auen, Anbindung an die A60 und einer Autofähre. Schnell fällt auch die dörfliche Kleinteiligkeit ins Auge. Frei-Weinheim ist geprägt von engen Straßen und mal giebel- mal traufständigen Einfamilienhäusern. Ein wenig vergessen kommt der 5.000-Seelen-Ort allerdings daher, der Generationenwechsel hat noch nicht stattgefunden und ein Großteil der Häuser ist dementsprechend sanierungsbedürftig.

Doch es gibt auch Potenzial zur Nachverdichtung. Die Rede ist von einem versteckten Grundstück innerhalb einer Blockrandbebauung. Als die städtische Wohnungsbaugesellschaft Ingelheim am Rhein GmbH (WBI) darauf aufmerksam wurde, war es wild bewachsen, einige angrenzende Häuser ungenutzt und stark beschädigt. Man entschied sich, die Brache zugunsten einer Wohnbebauung zu beleben und beauftragte für die Planung und Umsetzung das in Darmstadt ansässige Büro Kramm & Strigl.

Das neue Wohnquartier im Ingelheimer Stadtteil Frei-Weinheim erreicht den KfW 40 Standard. Dies wird unter anderem durch eine Indach-Photovoltaik-Anlage ermöglicht.

Platzierung, Kubaturen und Oberflächen greifen die Strukturen und Bautypologien der Umgebung auf.

Von außen nach innen gedacht

„Neben der Kleinteiligkeit waren auch die Gustav-Adolf-Kirche und die St. Michael-Kirche wichtig für unseren Entwurf. Sie grenzen im Süden bzw. Osten unmittelbar an das Grundstück“, beschreibt Marcel Paffrath, seit 2016 Gesellschafter bei Kramm & Strigl, die Lage weiter. Und so wird die Platzierung der neuen Wohnbauten durch eine Achse bestimmt, die die beiden Kirchen miteinander verbindet. „Wir haben die Häuser im Osten bewusst etwas vom Straßenraum zurückspringen lassen. Dadurch entsteht vor der St. Michael-Kirche ein neuer Vorplatz“, so Paffrath. Ausgehend von diesem Vorplatz, eröffnen sich beim Gang durch das Quartier weitere Plätze – mal in Form eines Angers oder Spielplatzes, mal als Quartiersplatz für gemeinsame Feste oder auch als etwas privatere Rückzugsbereiche für die Bewohner*innen. „Es ist ein schönes Raumgefüge entstanden, das den Dorfcharakter, den das Quartier nach außen hat, auch im Inneren widerspiegelt“, fasst der Architekt zusammen.

An der Fassade wechseln sich Klinker und Holz ab. Die massive Basis bilden die KS-Plansteine von KS-Original.

Form folgt Umgebung

Maßgeblich dafür ist auch die Kubatur, die einem einfachen, klaren Gestaltungsprinzip folgt: zwei zusammenhängende dreigeschossige Häuser mit Satteldach, die leicht zueinander versetzt sind und sich ein Treppenhaus teilen. Auf diese Weise entstanden zehn unterschiedlich große und zueinander verdrehte Gebäude mit jeweils sechs bis acht Wohneinheiten. „Insgesamt konnten wir 83 Wohneinheiten innerhalb des Wohnblocks unterbringen und die Kleinteiligkeit der Umgebung gleichzeitig fortführen“, erläutert Paffrath.

Die Wohnungsgrößen variieren zwischen Ein-Zimmer-Wohnungen mit 40 m2 bis zu Fünf-Zimmer-Wohnungen mit 105 m2. Rund 40 % der Wohneinheiten umfassen drei Zimmer. Jede Erdgeschosswohnung erhielt eine Terrasse mit kleinem Garten, alle weiteren Wohnungen einen Balkon.

Das Grundstück wird durch eine Tiefgarage weitestgehend autofrei gehalten – zugunsten von viel Grün- und Freiflächen für die Menschen innerhalb und außerhalb des Quartiers.

Ortstypische Materialien auf massiver Basis

Ebenso wie die Kubatur finden sich auch die Fassadenmaterialien vor Ort wieder. Rötliche Klinker wurden mit einer vorgehängten Holzfassade kombiniert. „Bei aller Klarheit des Entwurfs, brachten diese Materialwechsel etwas kompliziertere Details mit sich“, erinnert sich Marcel Paffrath. „Das Mauerwerk hat es uns dagegen deutlich einfacher gemacht.“

Alle Häuser wurden in massiver KS-Bauweise errichtet: Das Mauerwerk aus 498 mm mal 248 mm großen KS-Plansteinen von KS-Original mit einer Dicke von 175 mm übernimmt die tragende Funktion, während die folgende 200 mm dicke Mineralwollschicht für die Dämmung zuständig ist. Durch diese Funktionstrennung können die Schichten unabhängig voneinander nach den bauphysikalischen und technischen Anforderungen geplant werden. „Kalksandstein ist bei uns ein bewährter Baustoff, für den wir uns im Falle von Ingelheim vor allem wegen seiner hohen Tragfähigkeit, seines guten Schallschutzes und seiner Wirtschaftlichkeit entschieden haben“, begründet Paffrath die Entscheidung. Tragende Wände lassen sich bereits ab einer Dicke von 11,5 cm realisieren, ab 15 cm sind bereits fünf Vollgeschosse möglich. Gerade im mehrgeschossigen Wohnungsbau wirkt sich das positiv auf die Flächeneffizienz aus. „Und natürlich müssen wir immer die Kosten im Auge behalten. Da ist Kalksandstein vergleichsweise günstig“, ergänzt er.

Für den Hochwasserfall gewappnet

Während der zweijährigen Bauphase war die direkte Lage am Rhein die größte Herausforderung. Die Baugrube musste zunächst mit einer Spundwand aus Stahl abgeschlossen werden. Anschließend wurde das Grundwasser in den Rhein geleitet. „Die Genehmigung dafür zu erhalten, war langwierig, da solche Vorhaben unter anderem immer abhängig von den Jahreszeiten und vom Wasserstadt sind“, erinnert sich Marcel Paffrath.

Heute kann die Tiefgarage unter dem Gelände im Hochwasserfall geflutet werden, die Bewohner*innen werden rechtzeitig über ein Frühwarnsystem informiert. Darüber hinaus sorgen Retentionsboxen für eine freie, kontrollierte Versickerung des anfallenden Regenwassers.

Initialzündung für Frei-Weinheim

Seit 2023 ist das Quartier bezogen. Es ist eines von mehreren Projekten, die die WBI im Laufe der Jahre in Frei-Weinheim realisiert hat. Mit ihnen kamen neue Menschen in den Ort und auch die bauliche Qualität hat sich verändert. „Es gibt im unmittelbaren Umfeld unseres Projekts zwei Wohnhäuser, die inzwischen saniert wurden“, berichtet Paffrath. „Man muss dem Ganzen natürlich noch etwas Zeit geben, aber es wirkt so, als seien diese Projekte die Initialzündung gewesen, um der tollen Lage von Frei-Weinheim endlich gerecht zu werden.“

Bauaufgabe
Wohnungsbau
Lage
Ingelheim
Architektur/Bauplanung
Kamm & Strigl
Grundfläche
8500.00m²
Fertigstellung
2023

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